Phagentherapie

Center for Phage Research and Phage Therapy, Regensburg, Germany
Fast unmittelbar nach der Entdeckung der Bakteriophagen durch Frederik Twort und Félix d'Hérelle in den Jahren 1915 und 1917 wurde ihr Potenzial für die antibakterielle Therapie und Prophylaxe beim Menschen erkannt und genutzt. Bakteriophagen bieten hierfür optimale Voraussetzungen: hohe Spezifität, geringe Toxizität sowie selbstaufrechterhaltende und amplifizierende Eigenschaften. Die erneute Aufmerksamkeit für das therapeutische Potenzial von Phagen spiegelt die wachsende Besorgnis über die Entstehung von Antibiotikaresistenzen und die Aussicht auf ein Post-Antibiotika-Zeitalter wider. Moderne Phagentherapieprodukte müssen jedoch mit den heutigen antimikrobiellen Arzneimitteln konkurrieren, was auch die regulatorischen Anforderungen für die klinische Anwendung umfasst.

In jüngster Zeit wurde in Fällen, in denen keine therapeutischen Optionen (Bakterien mit Multiresistenz gegen Antibiotika) für schwere oder lebensbedrohliche Infektionen zur Verfügung standen, der Einsatz von Phagen im Rahmen von Heilversuchen genutzt und gelegentlich veröffentlicht. Obwohl es derzeit nur wenige Referenzlabors für die Auswahl und Testung von Phagen für klinische Isolate gibt, ist die Testung vor Ort in dringenden Fällen unbedingt notwendig. Unter Beteiligung des PCR werden neue Methoden entwickelt, um eine solche personalisierte Phagentherapie zu ermöglichen.

Hintergrundinformationen

Phagentherapie bei MRE-Infektionen: Medizinischer Versorgungsbedarf und regulatorische Anforderungen

1. Ausmaß der MRE-Infektionen in Bayern und Deutschland (Stand 2023)

Multiresistente Erreger (MRE) verursachen in Deutschland jedes Jahr zehntausende Infektionen, insbesondere in Krankenhäusern. Schätzungsweise 6 % aller nosokomialen Infektionen gehen auf MRE zurück, was etwa 24.000–36.000 Krankenhausinfektionen pro Jahr entspricht. Unter Einbeziehung ambulant erworbener Fälle wird die Gesamtzahl der MRE-Infektionen in Deutschland auf rund 54.500 pro Jahr beziffert. Die folgende Übersicht zeigt die wichtigsten Erreger und ihr Fallaufkommen:

Erreger (MRE)

Nosokomiale Infektionen pro Jahr (DE)

Sterblichkeitsrate im Zusammenhang mit MRE

MRSA (Methicillin-resistenter S. aureus)

ca. 11.000

~4,0 pro 100.000 Einwohner

VRE (Vancomycin-resistente Enterokokken)

ca. 4.000

~3,4 pro 100.000 Einwohner

Multiresistente E. coli

ca. 8.000

~7,9 pro 100.000 Einwohner

Multiresistente K. pneumoniae

ca. 2.000

~2,2 pro 100.000 Einwohner

Multiresistente P. aeruginosa

ca. 4.000

~1,6 pro 100.000 Einwohner

Diese fünf Erreger („ESKAPE“-Gruppe) sind für den Großteil schwerer MRE-Infektionen verantwortlich. Bayern trägt als größtes Bundesland einen entsprechenden Anteil an den Fallzahlen; konkrete Meldedaten zeigen für Bayern im Trend ähnliche Entwicklungen wie bundesweit (z. B. deutlich rückläufige MRSA-Raten, aber zunehmende Probleme bei gramnegativen Keimen). Jährlich sterben in Deutschland nach aktuellen Schätzungen rund 9.700 Menschen direkt infolge von Infektionen mit multiresistenten Bakterien. Einschließlich aller Fälle, in denen MRE zumindest mitbeteiligt sind, wird von bis zu 45.000 Todesfällen pro Jahr ausgegangen.

2. Gesundheitsökonomische Auswirkungen: Zusatzkosten durch MRE-Infektionen

Multiresistente Infektionen führen zu erheblichen Mehrkosten im Gesundheitswesen. MRE-Erkrankungen verlängern häufig die Krankenhausverweildauer (durchschnittlich um etwa 5 Tage) und erfordern teurere Behandlungen sowie Isolationsmaßnahmen. Studien beziffern die zusätzlichen Behandlungskosten pro Krankenhausinfektion auf 5.000 bis 20.000 €. Im Falle von MRSA-Infektionen steigen die Kosten pro Fall im Mittel sogar auf das Dreifache einer vergleichbaren Infektion mit methicillinsensiblen S. aureus (MSSA). Eine Auswertung der Techniker-Krankenkasse (TK) ergab durchschnittliche Mehrkosten von ~17.500 € pro MRE-Fall für die Krankenversicherung. Neuere Berechnungen deuten aufgrund komplexerer Resistenzfälle auf noch höhere Werte hin – so werden aktuell etwa 27.000 € Zusatzkosten pro MRE-Patient im Krankenhaus veranschlagt. Dies entspricht einer Kostensteigerung von ~41 % gegenüber 2018 und allein in deutschen Kliniken einer Gesamtbelastung von rund 1,1 Mrd. € (bei ca. 40.000 MRE-Fällen). Nimmt man alle direkten und indirekten Kosten im Gesundheitssystem zusammen (einschließlich Rehabilitationsaufwand, Isolation, Personalkosten, etc.), werden die gesamtwirtschaftlichen Mehrkosten durch MRE auf etwa 4 Mrd. € jährlich geschätzt.

Hauptkostenfaktoren bei MRE-Infektionen sind:

  • Verlängerter Krankenhausaufenthalt und Intensivtherapie (z. B. Einsatz von Reserveantibiotika),
  • Isolationsmaßnahmen (Personalschulungen, Schutzkleidung, Einzelzimmer),
  • Diagnostik (zur Erregeridentifikation),
  • Indirekte Kosten durch Bettensperrungen und Ausfall von Routineeingriffen,
  • Intangible Kosten (z. B. psychische Belastung isolierter Patienten).

Diese Zusatzkosten fallen oft unvergütet an: Im DRG-Fallpauschalensystem werden MRE-bedingte Aufwände nur teilweise abgedeckt. Gesundheitsökonomische Analysen weisen zugleich darauf hin, dass Investitionen in MRE-Prävention (z. B. Hygiene-Fachpersonal, Screeningprogramme) kosteneffektiv sind.

3. Regulatorische Hürden für die Phagentherapie in Deutschland

Trotz vielversprechender Erfolge in Einzelfällen steht die Phagentherapie in Deutschland noch am Rande der Regelversorgung. Zahlreiche bürokratische und regulatorische Hindernisse begrenzen derzeit eine breitere Anwendung gegen MRE:

  • Kein zugelassenes Arzneimittel: Derzeit ist kein Phagen-Präparat in Deutschland zugelassen. Bakteriophagen gelten regulatorisch als Arzneimittel, wodurch für eine Marktzulassung umfassende Nachweise zu pharmazeutischer Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit in klinischen Studien erforderlich wären. Diese Anforderungen sind für Phagen jedoch schwer zu erfüllen, da ihre Wirtsspezifität die potenziellen Patientengruppen stark begrenzt. Ohne diese Evidenz kann keine reguläre Zulassung und frühe Nutzenbewertung erfolgen, was wiederum Voraussetzung für eine GKV-Erstattung als neues Medikament ist.
  • Individueller Heilversuch statt Standardtherapie: Mangels Zulassung erfolgt Phagen-Einsatz bislang nur im Rahmen individueller Therapieversuche. Das bedeutet, ein Arzt kann im Einzelfall eine Phagenbehandlung vorschlagen, wenn alle etablierten Optionen versagen. Solche Einsätze dienen ausschließlich dem Wohle des einzelnen Patienten und nicht der systematischen Datenerhebung. Behandlungsstandards oder Leitlinien existieren kaum – jeder Einsatz ist experimentell und erfordert höchste Sorgfalt.
  • Herstellung und Qualitätsauflagen: Bakteriophagen müssen unter GMP-Bedingungen produziert werden. Es gibt jedoch kaum zugelassene Herstellungsstätten für Phagenpräparate in Deutschland. Eine alternative Lösung ist die Herstellung patientenindividueller Phagenmischungen in Apotheken ("Magistralrezeptur"), wie sie in Belgien gesetzlich verankert wurde. In Deutschland ist die magistrale Zubereitung zwar grundsätzlich erlaubt, jedoch fehlt bisher eine klare Infrastruktur. Das BfArM signalisiert zwar Offenheit, fordert aber hohe Qualitätsstandards.
  • Fehlende Erstattungsfähigkeit im GKV-System: Ohne offizielle Zulassung und G-BA-Nutzenbewertung gibt es keinen regulären Erstattungsanspruch durch die gesetzlichen Krankenkassen. Aktuell werden Phagentherapien nur in Ausnahmefällen finanziert – meist über Forschungsgelder oder Einzelfallentscheidungen. Auch ambulant fehlen EBM-Ziffern. Insgesamt hemmt die unklare Finanzierung die Verfügbarkeit erheblich.
  • Positionen von Fachbehörden und Politik: Sowohl die Fachbehörden als auch medizinische Fachgesellschaften erkennen diese Hürden an. Das BfArM hat betont, dass neue Zulassungswege oder Ausnahmeregelungen nötig sein könnten. Der Deutsche Bundestag empfiehlt, die Phagentherapie als Option gegen Antibiotikaresistenzen weiterzuentwickeln, inklusive Förderung klinischer Forschung, Anpassung des Regulierungsrahmens und Übergangslösungen wie der Magistralherstellung.
  • Eine Leitlinie zur Phagentherapie ("AWMF S2k Leitlinie Phagentherapie") wird voraussichtlich erst 11/2025 veröffentlicht werden

Diese Barrieren verdeutlichen, dass Phagen nicht ins starre Schema der Arzneimittelzulassung passen. Experten empfehlen ein Bündel an Maßnahmen, z. B.: staatliche Förderprogramme, dynamische Erstattungsmodelle, Zusatzentgelte im Krankenhaus für Phagenbehandlungen und internationale Zusammenarbeit zur Etablierung von Phagenbanken und Qualitätsstandards.

Quellen:

Arzneimittel-Härtefall-Verordnung vom 14. Juli 2010.(2010). Bundesgesetzblatt, I, 935. (Zuletzt geändert durch Verordnung vom 6. Juli 2022). (Deutsches Bundesrecht)

Arzneimittel- und Wirkstoffherstellungsverordnung vom 3. November 2006.(2006). Bundesgesetzblatt, I, 2523. (Zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. Oktober 2024). (Deutsches Bundesrecht)

Deutscher Bundestag.(2023). Bakteriophagen in Medizin, Land- und Lebensmittelwirtschaft – Anwendungsperspektiven, Innovations- und Regulierungsfragen (Bericht des 18. Ausschusses, BT-Drucksache 20/7600 vom 19. Juli 2023). Berlin: Deutscher Bundestag. URL: https://dserver.bundestag.de/btd/20/076/2007600.pdf

Gemeinsamer Bundesausschuss.(2024). Off-Label-Use – Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln in nicht zugelassenen Anwendungsgebieten (Informationsseite, Stand: Dezember 2024). URL: https://www.g-ba.de/themen/arzneimittel/arzneimittel-richtlinie-anlagen/off-label-use/

Kern, B.-R., & Rehborn, M.(2019). § 96 Die medizinischen Standards. In B.-R. Kern & M. Rehborn (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts (5. Aufl.). München: C.H. Beck.

Lipp, V.(2022). Heilversuch und medizinische Forschung. In A. Laufs & C. Katzenmeier (Hrsg.), Arztrecht (8. Aufl.). München: C.H. Beck.

Teklemariam, A. D., Al Hindi, R., Qadri, I., Alharbi, M. G., Hashem, A. M., Alrefaei, A. A., … Harakeh, S.(2024). Phage cocktails – an emerging approach for the control of bacterial infection with major emphasis on foodborne pathogens. Biotechnology and Genetic Engineering Reviews, 40(1), 36–64. DOI:1080/02648725.2023.2178870

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