In jüngster Zeit wurde in Fällen, in denen keine therapeutischen Optionen (Bakterien mit Multiresistenz gegen Antibiotika) für schwere oder lebensbedrohliche Infektionen zur Verfügung standen, der Einsatz von Phagen im Rahmen von Heilversuchen genutzt und gelegentlich veröffentlicht. Obwohl es derzeit nur wenige Referenzlabors für die Auswahl und Testung von Phagen für klinische Isolate gibt, ist die Testung vor Ort in dringenden Fällen unbedingt notwendig. Unter Beteiligung des PCR werden neue Methoden entwickelt, um eine solche personalisierte Phagentherapie zu ermöglichen.
Hintergrundinformationen
Phagentherapie bei MRE-Infektionen: Medizinischer Versorgungsbedarf und regulatorische Anforderungen
1. Ausmaß der MRE-Infektionen in Bayern und Deutschland (Stand 2023)
Multiresistente Erreger (MRE) verursachen in Deutschland jedes Jahr zehntausende Infektionen, insbesondere in Krankenhäusern. Schätzungsweise 6 % aller nosokomialen Infektionen gehen auf MRE zurück, was etwa 24.000–36.000 Krankenhausinfektionen pro Jahr entspricht. Unter Einbeziehung ambulant erworbener Fälle wird die Gesamtzahl der MRE-Infektionen in Deutschland auf rund 54.500 pro Jahr beziffert. Die folgende Übersicht zeigt die wichtigsten Erreger und ihr Fallaufkommen:
Erreger (MRE) |
Nosokomiale Infektionen pro Jahr (DE) |
Sterblichkeitsrate im Zusammenhang mit MRE |
MRSA (Methicillin-resistenter S. aureus) |
ca. 11.000 |
~4,0 pro 100.000 Einwohner |
VRE (Vancomycin-resistente Enterokokken) |
ca. 4.000 |
~3,4 pro 100.000 Einwohner |
Multiresistente E. coli |
ca. 8.000 |
~7,9 pro 100.000 Einwohner |
Multiresistente K. pneumoniae |
ca. 2.000 |
~2,2 pro 100.000 Einwohner |
Multiresistente P. aeruginosa |
ca. 4.000 |
~1,6 pro 100.000 Einwohner |
Diese fünf Erreger („ESKAPE“-Gruppe) sind für den Großteil schwerer MRE-Infektionen verantwortlich. Bayern trägt als größtes Bundesland einen entsprechenden Anteil an den Fallzahlen; konkrete Meldedaten zeigen für Bayern im Trend ähnliche Entwicklungen wie bundesweit (z. B. deutlich rückläufige MRSA-Raten, aber zunehmende Probleme bei gramnegativen Keimen). Jährlich sterben in Deutschland nach aktuellen Schätzungen rund 9.700 Menschen direkt infolge von Infektionen mit multiresistenten Bakterien. Einschließlich aller Fälle, in denen MRE zumindest mitbeteiligt sind, wird von bis zu 45.000 Todesfällen pro Jahr ausgegangen.
2. Gesundheitsökonomische Auswirkungen: Zusatzkosten durch MRE-Infektionen
Multiresistente Infektionen führen zu erheblichen Mehrkosten im Gesundheitswesen. MRE-Erkrankungen verlängern häufig die Krankenhausverweildauer (durchschnittlich um etwa 5 Tage) und erfordern teurere Behandlungen sowie Isolationsmaßnahmen. Studien beziffern die zusätzlichen Behandlungskosten pro Krankenhausinfektion auf 5.000 bis 20.000 €. Im Falle von MRSA-Infektionen steigen die Kosten pro Fall im Mittel sogar auf das Dreifache einer vergleichbaren Infektion mit methicillinsensiblen S. aureus (MSSA). Eine Auswertung der Techniker-Krankenkasse (TK) ergab durchschnittliche Mehrkosten von ~17.500 € pro MRE-Fall für die Krankenversicherung. Neuere Berechnungen deuten aufgrund komplexerer Resistenzfälle auf noch höhere Werte hin – so werden aktuell etwa 27.000 € Zusatzkosten pro MRE-Patient im Krankenhaus veranschlagt. Dies entspricht einer Kostensteigerung von ~41 % gegenüber 2018 und allein in deutschen Kliniken einer Gesamtbelastung von rund 1,1 Mrd. € (bei ca. 40.000 MRE-Fällen). Nimmt man alle direkten und indirekten Kosten im Gesundheitssystem zusammen (einschließlich Rehabilitationsaufwand, Isolation, Personalkosten, etc.), werden die gesamtwirtschaftlichen Mehrkosten durch MRE auf etwa 4 Mrd. € jährlich geschätzt.
Hauptkostenfaktoren bei MRE-Infektionen sind:
Diese Zusatzkosten fallen oft unvergütet an: Im DRG-Fallpauschalensystem werden MRE-bedingte Aufwände nur teilweise abgedeckt. Gesundheitsökonomische Analysen weisen zugleich darauf hin, dass Investitionen in MRE-Prävention (z. B. Hygiene-Fachpersonal, Screeningprogramme) kosteneffektiv sind.
3. Regulatorische Hürden für die Phagentherapie in Deutschland
Trotz vielversprechender Erfolge in Einzelfällen steht die Phagentherapie in Deutschland noch am Rande der Regelversorgung. Zahlreiche bürokratische und regulatorische Hindernisse begrenzen derzeit eine breitere Anwendung gegen MRE:
Diese Barrieren verdeutlichen, dass Phagen nicht ins starre Schema der Arzneimittelzulassung passen. Experten empfehlen ein Bündel an Maßnahmen, z. B.: staatliche Förderprogramme, dynamische Erstattungsmodelle, Zusatzentgelte im Krankenhaus für Phagenbehandlungen und internationale Zusammenarbeit zur Etablierung von Phagenbanken und Qualitätsstandards.
Quellen:
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